Wudy an ÖGK: Es braucht ein Mit- statt Nebeneinander

Der stellvertretende ÖGK-Obmann Andreas Huss zeichnet ein düsteres Bild von der Zukunft der „Landärzte“. Er spricht ihnen indirekt die Existenzberechtigung ab und fordert in einem Interview mit den Oberösterreichischen Nachrichten einen kompletten Umbau des Gesundheitssystems. Dabei setzt Huss auf größere zentralisierte Primärversorgungszentren, weg von den klassischen Hausärzten.

Das will der neue Kurienobmann der Niedergelassenen, Dr. Max Wudy, nicht unkommentiert lassen. Er fordert in einem offenen Brief einen diverseren Zugang bei der Gestaltung des Gesundheitssystems. Es brauche mehr als „die reflexhafte Forderung nach mehr Zentren und die Abschaffung der frei niedergelassenen Ärzteschaft im Kassensystem“. Vor allem bedarf es eines Mit- statt eines Nebeneinanders sämtlicher Einrichtungen im kassenärztlichen Bereich. Und das unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung der Bevölkerung. Die einzelnen Hausarztpraxen bleiben auch weiterhin die Garanten für niederschwellige sowie ortsnahe Gesundheitsversorgung der Bevölkerung.

Offener Brief an ÖGK-Obmann Andreas Huss (ungekürzt):

Sehr geehrter Herr Obmann Huss, MBA,

als ich den Artikel „Weg von Einzelärzten hin zu Versorgungszentren“, erschienen in den OÖN am 30. 3. 2023 zum ersten Mal las, dachte ich, er sei einfach zwei Tage zu früh erschienen. Leider war dies nicht so.

Als fast vier Jahrzehnte im solidarisch finanzierten Gesundheitssystem und seit 29 Jahren als standespolitisch tätiger Arzt muss ich Sie auf einige Fehler und Widersprüche hinweisen.

1. Ihre Forderung nach zusätzlichen 500 Kassenarztstellen ist eine langjährige Forderung der Ärztekammer. Man muss allerdings nicht demographisch ausgebildet sein um zu erkennen, dass dies zu wenig ist. Diese Erhöhung entspricht gerade 12 Prozent, obwohl der Anteil der Bürger über 60 Jahre um mehr als das Dreifache gestiegen ist. Aber die Erkenntnis, dass der niedergelassene Bereich seit Jahren an oder sogar über der Belastungsgrenze arbeitet, ist immerhin positiv zu bewerten!

2. Erschreckend allerdings ist für mich, dass Sie die immer immobilere, ältere Bevölkerung durch die Zentralisierung der Allgemeinmedizin aus den Augen verloren haben. Primärversorgung ist kein Haus, kein Zentrum, sondern wohnortnahe, niederschwellige Betreuung der Patientenschaft. Dies ist in einem ruralen Land wie Österreich nur durch ein Miteinander von Zentren, Gruppenpraxen, Einzelordinationen und neuen Praxisformen, die noch zu entwickeln sind, zu gewährleisten. Vorschläge dazu gibt es seit Jahren genug, die Kammer steht gerne mit ihrer Erfahrung und ihrem Wissen zur Verfügung.

3. Nicht Öffnungszeiten sind das Wesentliche, auch das Wort „Versorgungszentren“ ist nicht ganz richtig gewählt, sondern die Betreuung von zumeist polymorbiden Patient:innen sollte im Vordergrund der Primärversorgung stehen. Gerade die kontinuierliche Hinwendung zu unseren kranken Patient:innen ist oft sehr zeitintensiv. Dieser Aufwand wird in unserem System schlecht oder gar nicht honoriert.

4. Die Lösung, die Sie zusätzlich vorschlagen, nämlich die Aufstockung der Studienplätze, klingt für Laien zwar plausibel, ist aber ebenso nicht zielführend. Es gibt im gesamten OECD-Raum kein einziges Land, welches pro Einwohner:in mehr Mediziner:innen als Österreich ausbildet. Allerdings gibt es auch nur wenige Länder, in denen so wenige Ärzt:innen als niedergelassene Allgemeinmediziner:innen im öffentlich solidarischen Gesundheitssystem arbeiten. In Ländern mit starker Primärversorgung, deren Bevölkerung sich zusätzlich an langen gesunden Jahren erfreuen darf, sind es bis zu 24 Prozent aller Ärzt:innen, in Österreich, wo der Bevölkerung nur wenige gesunde

Jahre im Alter bleiben, sind es nicht einmal 8 Prozent. Außerdem ist nicht richtig, dass es jährlich 170.000 Interessent:innen für das Medizinstudium gibt, aber da dürfte sich eine zusätzliche Null in den Druck geschummelt haben!

5. Es liegt nicht daran, dass 55 Prozent aller Mediziner:innen heute weiblich sind, dass wir drei Mal so viele Ärzt:innen wie in den 90er Jahren brauchen. Ihre Aussage ist eine Missachtung und Herabwürdigung der weiblichen Ärzteschaft! Es liegt neben der demographischen Entwicklung auch daran, dass die Medizin Gott sei Dank komplexer, aber auch gesprächsintensiver geworden ist. Zusätzlich fehlt ein moderner Leistungskatalog, der uns die Ausübung unseres Berufes massiv erleichtern würde. Auch die überbordende hausgemachte Bürokratie hemmt uns alle in unserer täglichen Arbeit!

6. Ich gebe Ihnen Recht, dass nur ein umfassender Strukturwandel unser Gesundheitssystem retten kann. Aber dieser muss viel mehr sein, als die reflexhafte Forderung nach mehr Zentren und die Abschaffung der frei niedergelassenen Ärzteschaft im Kassensystem. Wir brauchen vielmehr ein Mit- und kein Nebeneinander sämtlicher Einrichtungen, egal ob extra- oder intramural, egal ob Einzel- oder Gruppenpraxen, oder aber auch Zentren. Die von Ihnen angesprochenen fünf Milliarden wären zumindest eine gute Basis dafür. Was wir aber vor allem brauchen, ist die Bereitschaft der Politik, der Sozialversicherungen und auch der gesamten Ärzteschaft, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen und neu durchzustarten.

Die Ärzteschaft, so sei Ihnen versichert, steht zumindest in Niederösterreich zur Verfügung!

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Max Wudy

Vizepräsident der Ärztekammer für Niederösterreich

Obmann der Kurie der niedergelassenen Ärzte NÖ

(wp/03APR2023)

230403 Offener Brief von KO Wudy an Obmann Huss

Artikel in den Oberösterreichischen Nachrichten (siehe auch Foto hier unten)